"Gastarbeiter:innen"

Es wurden Arbeiter gerufen, doch es kamen Menschen

Kapitel

Italienische Gastarbeiter am Karlsruher Hauptbahnhof 1962 Stadtarchiv Karlsruhe 8/BA Schlesiger 1962:A9_90_6_2

Die Anfänge

Die öffentlichen Debatten im deutschen Südwesten wurden in den 1950er Jahren vor allem durch die Auseinandersetzungen um den Zusammenschluss der Länder Württemberg und Baden geprägt. Wirtschaftlich ging es nach den kräftezehrenden Jahren des Krieges bergauf. Die zerstörten Städte im Land wurden wiederaufgebaut, die Industrieproduktion nahm langsam Fahrt auf, Arbeit war in Übermaß vorhanden – das Wirtschaftswunder begann. Maßgeblich an dem wirtschaftlichen Aufstieg der Bundesrepublik beteiligt waren unter anderem die sogenannten „Gastarbeiter:innen“. Bei der Volkszählung 1961 betrug die Bevölkerungszahl im Bundesland Baden-Württemberg rund 7,8 Millionen Menschen. Darin eingerechnet sind ungefähr 170.000 Ausländer, die meisten davon „Gastarbeiter:innen“: Menschen die zum Arbeiten nach Deutschland gerufen wurden, und nach einem oder zwei Jahren wieder in ihre Heimatländer zurückkehren sollten. Im Jahre 1973, dem Jahr des Anwerbestopps waren es bereits 910.000 Menschen mit ausländischem Pass, ein Zuwachs von 740.000 Personen. Insgesamt stieg die Zahl der Bewohner in Baden-Württemberg um 1,4 Millionen auf insgesamt 9,2 Millionen Menschen an. Die „Gastarbeiter:innen“ machten einen Großteil des Bevölkerungswachstums in dieser Zeit aus.

In den Großstädten Baden-Württembergs ist diese Bevölkerungsentwicklung deutlich zu beobachten. Die Zahl der ausländischen Bürger der Landeshauptstadt Stuttgart vervierfachte sich zwischen den Jahren 1961 und 1973, von rund 26.000 Menschen auf über 100.000. Das Interessante dabei: Die Zahl Gesamtbevölkerung Stuttgarts verringerte sich im gleichen Zeitraum von 637.000 auf 624.000 Menschen. Demnach erfuhr die Stadt einen enormen Anstieg an Mitbürgern ausländischer Herkunft. Im Jahr 2015, auch bedingt durch weitere Migrationsbewegungen, hatte so gut wie jeder vierte Stuttgarter einen nichtdeutschen Pass, die Zahl der Menschen mit sogenannten „Migrationshintergrund“ lag 2005 bereits bei 38%.[1] Großen Anteil daran, dass sogenannte Fremde sich heimisch in der Stadt fühlen, hatte der langjährige Oberbürgermeister Manfred Rommel (1928-2013). Die Leitlinien seiner Ausländerpolitik legte er bereits 1978 mit diesen Worten fest:[2]

Ausländische Einwohner sind im Interesse der Erhaltung der Wirtschafts- und Lebenskraft der Stadt Stuttgart und aus sozialpolitischen Gründen als dauerhafter Bestandteil der Stuttgarter Bevölkerung anzusehen. Es entspricht dem kommunalen Selbstverständnis und der gesetzlichen Aufgabenstellung der Stadt, die Ausländer und ihre Familienangehörigen in gleicher Weise wie die Deutschen in ihre Sorge um das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Wohl ihrer Einwohner einzubeziehen. In ihren ausländischen Einwohnern sieht die Landeshauptstadt einen voll zu integrierenden Teil ihrer Wohnbevölkerung.

– Manfred Rommel 1978

Unterzeichnung des Anwerbeabkommens zwischen Spanien und Deutschland durch Botschafter Marqués de Bolarque und Staatssekretär van Scherpenberg. Bundesarchiv, B 145 Bild-F008013-0006 Foto: Unterberg, Rolf | 29. März 1960

Das Anwerbeabkommen

Den Anfang nahm diese Entwicklung am 20. Dezember 1955. In Rom wurde das „Abkommen über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften“ zwischen Vertretern der Bundesrepublik und der Republik Italien unterzeichnet.[3] Es gilt als das erste Abkommen dieser Art. Weitere Abkommen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Südkorea (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965), und Jugoslawien (1968) folgten. Während die Unterzeichnung der Abkommen mit Italien, Spanien oder Griechenland feierlich begangen wurden, besiegelte die Zusammenarbeit zwischen der Türkei und der Bundesrepublik ein Austausch an Verbalnoten zwischen den Botschaftern (Wortlaut der Verbalnote siehe hier). Ganz so neu und fremd war das Anwerben von ausländischen Arbeitern allerdings nicht. Schon in der Kaiserzeit kamen italienische Saisonarbeiter, sogenannte „Fremdarbeiter“, über die Alpen nach Süddeutschland, um im Straßen- und Tunnelbau, oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Im Ruhrgebiet waren es neben den Italienern vor allem Polen, die in den Bergwerken unter Tage schufteten („Ruhrpolen“). Während der Naziherrschaft in Deutschland wurde 1937 ein Abkommen über einen „Arbeitskräfteaustausch“ mit dem faschistischen Italien geschlossen. Mehr als eine halbe Millionen Italiener arbeiteten fortan in der Landwirtschaft und in der Kriegsindustrie Nazideutschlands. Erst durch die Kapitulation Italiens im
Jahre 1943 endete dieses Arrangement. Die in Deutschland festgesetzten italienischen „Fremdarbeiter“ wurden jedoch bis Kriegsende zu Zwangsarbeit verpflichtet. Der durch dieses Agieren der Nationalsozialisten belastete Begriff „Fremdarbeiter“ wich im öffentlichen Sprachgebrauch der Nachkriegszeit dem Begriff „Gastarbeiter:innen“.[4] Diesem war, mehr noch als der Bezeichnung „Fremdarbeiter“, der vorübergehende Charakter des Aufenthaltes im Ankunftsland immanent. Denn „Gastarbeiter:innen“ sollten nach getaner Arbeit wieder zurück in ihre Heimatländer zurückkehren, so stand es in den Anwerbeabkommen: Die Aufenthaltserlaubnis [für ausländische Arbeitnehmer] wird über eine Gesamtaufenthaltsdauer von zwei Jahren hinaus nicht erteilt.[5]

Die Gründe für die Anwerbung italienischer Arbeiter waren vielfältig. Die deutschen und italienischen Verantwortlichen erhofften sich zahlreiche Vorteile durch das Abkommen. Mehr Kontrolle über den Arbeitsmarkt und die Wirtschaft, die Bannung eines wachstumshemmenden Lohnanstiegs sowie eine prophylaktische Anwerbungspolitik um der drohenden Vollbeschäftigung und dem Arbeitskräftemangel vorzubeugen, so stellen sich die deutschen Interessen dar. Für Italien gilt die Emigration von Bevölkerungsteilen seit jeher als wirksames Mittel zur Eindämmung der heimischen Massenarbeitslosigkeit. Zugleich sollte die negative Devisenbilanz verbessert werden. Auch kann das Abkommen als Entgegenkommen Deutschlands in den Verhandlungen zu einer Mitgliedschaft Italiens in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft gewertet werden. Auch für Griechenland, die Türkei und die folgenden Herkunftsländer der „Gastarbeiter:innen“ bedeuteten die Abkommen mit der Bundesrepublik eine Entlastung der heimischen Arbeitsmärkte.

In den einzelnen Abkommen wurde der Anwerbeprozess in den entsprechenden Staaten genau geregelt. Zur besseren Zusammenarbeit zwischen deutschen und italienischen oder türkischen Behörden wurden Verbindungsstellen der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in den jeweiligen Ländern errichtet. In Italien befand sich die „Deutsche Kommission“ in Verona, eine weitere wurde in Neapel eingerichtet, die türkische Verbindungsstelle war in Istanbul beheimatet. Dort gingen einerseits die Beschäftigungsangebote von deutschen Arbeitgebern ein, andererseits wurden die Bewerbungen von potentiellen Arbeitnehmern registriert. Neben der Vermittlung eines Arbeitsplatzes boten die Verbindungsstellen auch allgemeine Informationen über Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland sowie speziellere Informationen zu Lohnbedingungen, zum Abzug der Lohnsteuer, oder den Möglichkeiten der Unterbringung am Arbeitsort an. Während zu Beginn der Anwerbephase insbesondere ungelernte Arbeiter eingestellt wurden, vor allem aus Italien, ging man später in den Verbindungsstellen dazu über, gezielt um Fachkräfte zu werben. Ungelernte türkische oder griechische Arbeiter hatten weniger gute Chancen, eine Anstellung in Deutschland zu erhalten, Fachkräfte allerdings schon. Die fachliche Qualifikation wurde eingehend geprüft, ebenso der gesundheitliche Zustand der Bewerber.

SWR-Hörfunkbeitrag aus dem Jahr 1991, der den Anwerbeprozess von türkischen „Gastarbeiter:innen“ erläutert:

 

"Gastarbeiter" aus Jugoslawien Stadtarchiv Karlsruhe 8/BA Schlesiger 1976:A32_181_4_34

Die Ankunft

Die ersten italienischen „Gastarbeiter:innen“ trafen im Frühjahr 1956 mit einem Sonderzug in Deutschland ein, zuerst am Bahnhof in Singen/Hohentwiel, der sogenannten „Neapel-Schleuse“, wo sie von Beamten der Landesarbeitsämter empfangen und an ihren zugeteilten Arbeitsort weitergeleitet wurden, z. B. nach Karlsruhe, Mannheim oder Stuttgart. Dieses Verfahren wurde auch für die angeworbenen Arbeiter aus den anderen Staaten übernommen. Die Kosten für die Reise nach Deutschland übernahm der Arbeitgeber, durchgeführt wurde sie von der Bundesbahn. Meist dauerte die Reise für die „Gastarbeiter:innen“ länger als nur die Fahrt von Verona oder Istanbul an den jeweiligen Arbeitsort, da die Arbeiter bereits mit gepackten Koffern aus ihren Heimatdörfern und -städten aus dem Süden Italiens oder aus Anatolien zu den Verbindungsstellen reisten. Erschwert wurden die bis zu 50 Stunden dauernden Reisen durch verdorbene Essenspakete, zu wenig Wasser, schlechte hygienische Bedingungen in den Zugtoiletten und keine Schlafmöglichkeiten in den Zügen. Erst in den 1970er Jahren wurden Flugreisen kostengünstiger und das Flugzeug löste die Eisenbahn als vorrangiges Reisemittel ab.

SWR-Hörfunkbeitrag anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des Anwerbeabkommens mit Italien aus dem Jahr 2015:

„Attenzione, attenzione! Qui Singen, Hohentwiel. La prima stazione Germanica dove avrà luogo lo smistamento. Siete precati di scendere il bagaglio.“ („Achtung, Achtung! Der erste Bahnhof in Deutschland. Hier werden die Ankommenden verteilt. Bitte laden Sie das Gepäck aus.“)

– DURCHSAGE IM BAHNHOF SINGEN/HOHENTWIEL IN DEN 1960ER JAHREN

VIa.jpg Unterkunft für "Gastarbeiter" in Karlsruhe 1966 Stadtarchiv Karlsruhe 8/BA Schlesiger 1966:A13_161_6_12

Die Unterkunft

Neben der Übernahme der Reisekosten wurde in den Abkommen festgelegt, dass die Arbeitgeber eine für angemessen befundene Unterkunft [6] für die Arbeitnehmer zur Verfügung stellen musste. Diese Wohnheime befanden sich in den meisten Fällen auf dem Werksgelände der Betriebe und bestanden aus einfachen Hütten aus Holzbrettern. Gemeinschaftszimmer mit Etagenbetten, gemeinschaftlichen Küchen und Waschräume boten wenig Privatsphäre für den Einzelnen. Die im Verhältnis zu einer eigenen Wohnung günstigere Miete der Wohnheimplätze, meist zwischen 60 und 80 Mark, und der von den Arbeitgebern als auch Arbeitnehmern angedachte befristete Zeitraum des Aufenthaltes in Deutschland, veranlasste viele „Gastarbeiter“:innen die Zustände und strengen Regeln in den Wohnheimen zu akzeptieren. Denn Frauenbesuche waren generell verboten, ab 22 Uhr wurden zudem die Grundstücke abgeschlossen. Erst infolge des Familiennachzugs und der Perspektive auf einen längeren Verbleib in der Bundesrepublik drangen mehr und mehr ausländische Arbeiter auf den freien Wohnungsmarkt. Dieser war bereits in den 1960ern von Wohnungsknappheit geprägt, „Gastarbeiter:innen“ plagten sich zudem aufgrund ihrer Herkunft mit großen Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche.

Mannheimer Innenstadt 1979 Stadtarchiv Mannheim ABBN1141-6-20713-27a

Der Alltag

Das alltägliche Leben der zugewanderten Arbeiter gestaltete sich aufgrund von Sprachschwierigkeiten nicht einfach. Türkische „Gastarbeiter:innen“ hatten, da sie aus religiösen Gründen Schweinefleisch mieden, beim Einkaufen Vorbehalte gegenüber fleischhaltigen Lebensmitteln. Italiener mussten meist auf heimische Zutaten wie Olivenöl, Mozzarella oder Spaghetti verzichten, da sie in Deutschland entweder kaum erhältlich oder mit dem Gehalt eines Arbeiters nicht bezahlbar waren. Die Probleme rund um die Beschaffung von Zutaten aus der „alten“ Heimat verringerten sich, nachdem sich mehr und mehr „Gastarbeiter:innen“ selbstständig machten und Lebensmittelläden eröffneten. Heute sind italienische, griechische und türkische Restaurants oder Feinkostgeschäfte nicht nur aus den baden-württembergischen Städten nicht mehr wegzudenken. Außerhalb der Wohnheime bewegten sich die „Gastarbeiter:innen“ meist in Gruppen. Beliebte Treffpunkte waren meist die Bahnhöfe, die sowohl zentral lagen und die jeder durch die Zugfahrt nach Deutschland kannte. 

Die wirtschaftlichen Verhältnisse der „Gastarbeiter:innen“ waren ambivalent. In vielerlei Hinsicht übten sie sich zum einen in Konsumverzicht, vor allem bei alltäglichen Anschaffungen, um das hart erarbeitete Geld in der „alten“ Heimat in Grundstücke, Wohnungen oder landwirtschaftliches Gerät investieren zu können. Denn bis in die 1970er Jahre war bei vielen die Rückkehr nach Italien oder in die Türkei Konsens. Zum anderen erfreuten sich Elektrogeräte, Radios, Plattenspieler oder Videorecorder großer Beliebtheit, um Radiosender oder Musik in der Landessprache abspielen zu können. Autos zählten von Beginn an zu den Prestigobjekten von Arbeitern, oft traten sie damit auch den Jahresurlaub in die „alte“ Heimat an. Sicherlich auch, um bei Verwandten und Freunden mit dem Erreichten zu prahlen. Denn dort galten die „Gastarbeiter:innen als vermögend, während sie in Deutschland nur durch Mehrarbeit und Überstunden den Verdienst ihrer deutschen Kollegen erreichten.

Die Anwerbeabkommen legten die Dauer des Aufenthaltes eines angeworbenen Arbeiters auf höchstens zwei Jahre fest. In der Realität erwies sich dieser Punkt vor allem für die Arbeitgeber als unpraktikabel, da bereits eingelernte, an die deutschen Lebens- und Arbeitsbedingungen gewöhnte Arbeitnehmer nach der festgelegten Zeit fortgeschickt und ersetzt werden mussten. Auch strebten die Arbeitnehmer selbst unter anderem wegen der lukrativeren Entlohnung im Vergleich zu ihren Herkunftsländern, der besseren gesundheitlichen Versorgung und der insgesamt besseren Perspektive einen längeren Aufenthalt in Deutschland an, sodass faktisch die Aufenthaltserlaubnis der „Gastarbeite:innenr“ über zwei Jahre hinaus gewährt wurde. Italienische Arbeiter profitierten zudem von der Mitgliedschaft Italiens in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der damit verbundenen Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit.

Der Film aus dem Jahr 1964, gedreht von Studierenden der Abteilung Film der Hochschule für Gestaltung Ulm, zeigt seltene Aufnahmen von italienischen „Gastarbeiter:innen“ am Ulmer Hauptbahnhof und in ihren Gemeinschaftsunterkünften.

Am 5. August 1970 kommt in Stuttgart der 500.000 „Gastarbeiter:innen“ an. Hier erzählt Zvonimir Kanjir aus Kroatien seine Geschichte:

Der Anwerbestop

Während die Unterzeichnungen der Anwerbeabkommen feierlich zwischen Botschaftern und Staatssekretären vor eingeladener Presse stattfanden, endete das Anwerbeverfahren im Jahre 1973 durch ein einfaches Fernschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung an den Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeit (Wortlaut des Schreibens hier). Der Anwerbestopp erfolgte mit sofortiger Wirkung. Begründet wurde er durch die weltweit einsetzende Ölkrise und die daraus für die deutsche Wirtschaft resultierende Rezession.
Diese Maßnahme hatte zur Folge, dass Arbeitsverhältnisse mit Arbeitern aus den Anwerbestaaten zwar fortbestanden, aber keine neuen mehr geschlossen wurden. Auf offiziellem Wege gab es für Menschen aus der Türkei, Griechenland, Portugal, Spanien oder Jugoslawien nur noch die Möglichkeit der Familienzusammenführung, um nach Deutschland einzuwandern und dauerhaft zu bleiben. Italiener betraf der Anwerbestopp nicht, da für sie durch die Mitgliedschaft Italiens in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erleichterte Bedingungen herrschten.

Heute

Besonders in den industriellen Ballungsräumen in Baden-Württemberg wurden italienische, türkische, griechische und jugoslawische „Gastarbeiter:innen“ ansässig. Viele verwarfen den Gedanken an eine baldige Rückkehr in ihre alte „Heimat“ und bauten sich in Deutschland eine neue Existenz auf. Die Familien der „Gastarbeiter:innen“ zogen nach, ihre Kinder wurden eingeschult. Während die Elterngeneration meist nur die nötigsten Sprachkenntnisse erwarb und sich der Kontakt zu Deutschen hauptsächlich auf die Arbeit beschränkte, waren die Voraussetzungen für die „Gastarbeiterkinder“ besser. In großstädtischen Schulen wurden „Ausländerklassen“ gebildet, was für den Spracherwerb nicht immer förderlich war. Dennoch bedeutete der Abschluss von Schule und Lehre einen sozialen Aufstieg, der mit einer besseren Eingliederung in die Gesellschaft einherging. Auch die Kinder der „Gastarbeiter:innen“ blieben, auch sie wurden heimisch in der „Fremde“.

Mit zehn Jahren kam Graziella Russo 1970 nach Fellbach zu ihren Eltern, die hier als „Gastarbeiter:innen“ lebten.

Vater Cristoforo Russo war ein junger Fischer und italienischer Soldat, als er während des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1943 von der Wehrmacht zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert wurde. Nach Kriegsende kehrte er in sein Heimatdort Cariati in Kalabrien zurück, heiratete seine Jugendliebe und gründete eine Familie. Mitte der 1950er Jahre begann die Auswanderung aus den ländlichen und strukturschwachen Regionen Süditaliens, auch Cristoforo Russo entschied sich, diesmal freiwillig, für einen Arbeitsplatz in Deutschland. Da er sehr unter der Trennung von seiner Familie litt, holte er seine Frau und die Kinder in Etappen nach. Sein Traum, als Rentner in seinem Haus in Cariati den Lebensabend zu verbringen, vereitelte ein früher Tod.
Vincenzo De Giovanni hatte in seiner Heimat in Apulien kaum Möglichkeiten zu studieren und zu arbeiten. So folgte er nach dem Militärdienst 1978 seinen Eltern nach Süddeutschland. Er fand problemlos Arbeit und lernte auch rasch die Sprache. 1984 heirateten Vincenzo De Giovanni und Graziella Russo. Fünf Jahre später wanderte die junge Familie nach Cariati aus. Doch konnte sie in der süditalienischen Heimat nicht heimisch werden, deshalb kehrte sie nach Fellbach-Oeffingen zurück, wo sich das italienische Ehepaar mit seinen beiden Söhnen wohlfühlt.
Frau Sultana Joannidou erzählt uns hier ihre eindrucksvolle Geschichte – mit freundlicher Genehmigung aus der Erzählwerkstatt der Diaphania in Heilbronn[8] – mit dem Titel:
Doch noch immer herrscht in der inzwischen dritten und vierten Generation von „Gastarbeiterkindern“ eine gewisse innere Zerrissenheit, wenn es um den Heimatbegriff geht. Trotzdem sie in Deutschland geboren werden und aufwachsen, zur Schule gehen und arbeiten, fällt einigen die Identifikation mit dem Land schwer. In drastischen Fällen führt solch eine Haltung zu Abschottung und freiwilliger Ghettoisierung, was einem gemeinschaftlichem Leben in einer Gesellschaft zuwiderläuft und zu gravierenden Problemen führen kann. Etwa zu kriminell oder religiös motivierten Strukturen, die nicht mit dem Gesetz vereinbar sind. Die Ursachen dafür sind sicherlich in den eigenen Denkstrukturen zu suchen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden. Wenig hilfreich sind aber auch pauschale Ausgrenzungen vonseiten der Gesellschaft. So werden Menschen mit türkischem Namen oft bei der Wohnungs- oder Jobsuche benachteiligt (siehe hier). Das grenzt auch diejenigen aus, die sich zu Deutschland bekennen. Denn diese Gruppe, so wenig sie in den Medien präsent zu sein scheint, existiert und wird immer größer.[7]

Ich glaube, es braucht noch mindestens eine ganze Generation, bis man sich in Deutschland daran gewöhnt hat, dass ein deutscher Staatsbürger, ein Baden-Württemberger, ein Badener oder ein Schwabe, auch jemand sein kann, der Cem Özdemir heißt. Und dass es trotzdem ein guter Schwabe oder guter Baden-Württemberger ist.

CEM ÖZDEMIR, AUS: 50 JAHRE BADEN-WÜRTTEMBERG – WIELAND
BACKES PRÄSENTIERT DAS HEIMATLAND.

Die Zerrissenheit der „Gastarbeiterkinder“ thematisiert auch dieser Beitrag der SWR-Produktion „50 Jahre Baden-Württemberg – Wieland Backes präsentiert das Heimatland“:

„50 Jahre Baden-Württemberg – Wieland Backes präsentiert das Heimatland“
mit freundlicher Genehmigung des SWR

Gerade mit der zweiten Generation der „Gastarbeiter:innen“ entwickelte sich ein Bewusstsein für die eigene Geschichte und die der Eltern. Vielfach schafften sich ab den 1990er Jahren „Gastarbeiterkinder“ in Form von Büchern oder Filmen Gehör und forderten ihren Platz in der Geschichte Deutschlands.

Filmtipp: Catenaccio in Mannheim - Mario Di Carlo, Deutschland 2002

Synopsis:

Catenaccio in Mannheim schildert die Lebenssituation italienischer Migranten in Deutschland. Ihr kollektives Gedächtnis wird als Auseinandersetzung zwischen den zwei Welten Italien und Deutschland thematisiert: Was wissen die Kinder der ehemaligen italienischen \“Gastarbeiter:innen\“ von der Einwanderung ihrer Eltern? Der Film zeigt die persönliche Reise eines Migranten der zweiten Generation. Von den Strassen Mannheims während der Fußballeuropameisterschaft 2000 führt der Weg bis in das Heimatdorf des Vaters nach Sizilien.

Zum Film: Catenaccio in Mannheim

Mehr zu Mario Di Carlo

Filmtipp: Man lebt nicht nur von Brot allein -  José Rodríguez, Deutschland 2006

Synopsis:

„Ab Mitte der 1950er Jahre warb Deutschland Millionen von sogenannten „Gastarbeitern“ an. Denn das ‚deutsche’ Wirtschaftswunder benötigte viele ausländische Arbeitskräfte, die einige Jahre arbeiten und dann wieder zurückkehren sollten. Aber ein Teil von ihnen blieb hier, auch wenn sich ihnen Deutschland nur ungern als Heimat anbot. Im Film „Man lebt nicht nur von Brot allein“ geben sechs „Gastarbeiter“ dieser ersten Migrantengeneration – alle unterschiedlicher Herkunft (bosnisch, griechisch, italienisch, kurdisch, spanisch und türkisch) – in oral history-Interviews Einblicke in ihre Biographie: Sie erzählen über ihre Ankunft in der Fremde und das Leben im Wohnheim, über ihre Arbeit, Ängste, Hoffnungen, fehlender Anerkennung, Rückkehrabsichten und über die Sehnsucht nach Leberknödeln. Nicht zuletzt berichten sie über ihre neue Heimat Deutschland und den Wunsch, hier auch begraben zu werden. Sie blicken zurück auf ihr eigenes Leben – und auf ein halbes Jahrhundert unbekannte bundesdeutsche Zeitgeschichte.“

Trailer: 

Weiterführende Informationen rund um das Thema „Gastarbeiter:innen“ im Besonderen und Migration im Allgemeinen gibt es hier:

Weiterführende Links:

[1] Zahlen laut Statistischem Landesamt Baden-Württemberg.
[2] Zitiert nach: Stuttgarter Zeitung
[3] Diesem Beitrag liegen hauptsächlich folgende Werke zu Grunde:
Sala, Roberto: Vom „Fremdarbeiter“ zum „Gastarbeiter“. Die Anwerbung italienischer Arbeitskräfte für die deutsche Wirtschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (55. Jhg, Heft 1), hrsg. von Karl Dietrich Bracher, Hans-Peter Schwarz, Horst Möller, Oldenbourg 2007, S. 93-122. Herbert, Ulrich: Geschichte der Ausländerpolitik in Deutschland. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Flüchtlinge, München 2001.
Mehrere Aufsätze aus: Fremde Heimat. Eine Geschichte der Einwanderung aus der Türkei, hrsg. von Aytac Eryilmaz und Mathilde Jamin, Essen 1998.
[4] Vgl. Terkessidis, Mark: Migranten (Rotbuch 3000, hrsg. von Martin Hoffmann), Hamburg 2000.
[5] + [6] Regelung der Vermittlung türkischer Arbeitnehmer nach der Bundesrepublik Deutschland. Deutsch-türkische Vereinbarung vom 30. Oktober 1961.
[7] Interview mit den Gründern des Vereins „Typisch deutsch e.V.“ in Zeit-Online.
[8] Erzählwerkstatt für Menschen aus aller Welt. Diaphania Heilbronn.