Der Vietnamkrieg endete 1975 mit dem Sieg des Vietcong und der Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam unter kommunistischer Führung.
Nach dem Zusammenbruch Südvietnams etablierte das kommunistische Regime eine Gewaltherrschaft und Funktionärswirtschaft. Viele Vietnamesen wurden enteignet, in Umerziehungslager gezwungen und schikaniert. Die ausbleibende Hilfe des Westens trieb Vietnam in die Arme der Sowjetunion. Die Hoffnung, dass Vietnam aus der Zwangsspirale herauskommen könnte, endete mit dem 1978 einsetzenden Flüchtlingsstrom, als Hunderttausende sogenannte Boatpeople aus ihrer Heimat flohen. In kleinen Fischerbooten versuchten die Menschen sich über das südchinesische Meer zu retten. Viele kamen dabei um. Thailändische Piraten plünderten die Boote, vergewaltigten und verschleppten Frauen. Der Massenexodus der Bootsflüchtlinge hat viele in der westlichen Welt ernüchtert. Auch die Bundesrepublik Deutschland entschloss sich damals zu helfen und nahm 38.000 Vietnamesen als Kontingentflüchtlinge auf.[1] Doch wie konnte es soweit kommen?
Die Vorgeschichte: Indochina- & Vietnam-Krieg
Im ersten Indochinakrieg (1946-1954) hatte die vietnamesische „Liga für die Unabhängigkeit“ („Viet Minh“) Krieg gegen die damalige Kolonialmacht Frankreich geführt. Mit der Niederlage der Franzosen wurde die französische Kolonie aufgelöst und der unabhängige Staat Vietnam gegründet. Ideologische Spannungen
innerhalb des Landes führten dazu, dass sich Vietnam entlang des 17. Breitengrades aufspaltete: in das sozialistische Nordvietnam und das von den Westmächten unterstützte Südvietnam.
Doch nach dem Indochinakrieg ging der Kampf um die Vereinigung und Befreiung Vietnams ununterbrochen weiter. Hồ Chí Minh (1890 – 1969), Präsident der Demokratischen Republik Vietnam, gehörte zu den treibenden Kräften bei den Versuchen, Nordvietnam und Südvietnam wiederzuvereinigen. 1965 griffen die USA in den Krieg ein und unterstützten das Regime in Südvietnam. „In Vietnam wird die freie Welt verteidigt“. Dagegen wurde der kommunistische Norden von der Volksrepublik China und der Sowjetunion mit Waffenlieferungen unterstützt. Die Sowjetunion selbst entsandte keine Soldaten nach Vietnam, weshalb der Vietnamkrieg auch als Stellvertreterkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion gilt. Beide Nationen versuchten ihre Einflusssphären zu erweitern, ohne einen Atomkrieg zu riskieren. Die Niederlage der Schutzmacht USA im Jahr 1973 war von historischer Bedeutung. Als im April 1975 die Vietcong-Guerilla in Saigon einmarschierte, war der Vietnamkrieg zu Ende.[2] Die unterlegenen Südvietnamesen waren den Übergriffen der kommunistischen Machthaber ausgesetzt, sie verloren ihr Land, Privateigentum wurde beschlagnahmt, Regimegegner ausgeschaltet und in Umerziehungslager gesteckt, viele junge Männer im Kambodschakrieg geopfert. Deshalb versuchten schätzungsweise ca. 1,5 Millionen Menschen zu fliehen.
Wegen verschlossener Grenzen blieb vielen nur der Weg über das südchinesische Meer, um dem kommunistischen Regime zu entkommen. Sie zahlten oftmals große Summen für einen Platz auf einem Fischerboot. Auf den sogenannten „Seelenverkäufern“ oder „Nussschalen“ waren die Menschen dem Wetter und thailändischen Piraten oft hilflos ausliefert, so dass die Überlebenschancen eher gering waren.
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Cap Anamur e.V.
Als Ende des Jahres 1978 Bilder des maroden Frachters Hai Hong mit 2500 kranken, verhungernden und verdurstenden Menschen, die von keinem Staat aufgenommen wurden, durch die Medien gingen, beschrieb Der Spiegel die Situation auf dem Flüchtlingsschiff als: „Eine Gestankwolke aus Urin, Kot und Schweiß umgibt das Schiff. Menschen erleichtern sich an der Reling, andere liegen reglos auf dem verrosteten Eisendeck des verfallenen Frachtschiffs.“[3] Der niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht (1930-2014) setzte sich für die vietnamesischen Flüchtlinge ein und drängte die Bundesrepublik zu deren Aufnahme. Allerdings fielen die Vietnamesen nicht unter die Bestimmungen der Genfer Flüchtlingskonvention, so dass ihr Status juristisch geklärt werden musste. Als schließlich im Dezember 1978 die ersten 163 Vietnamesen vom Frachtschiff Hai Hong am Flughafen in Langenhagen bei Hannover eintrafen, waren es die ersten Flüchtlinge von außerhalb Europas, die von nun an als Kontingentflüchtlinge behandelt wurden.[4] Allerdings warteten Hunderttausende weitere Boatpeople weiterhin auf Rettung. Im Juni 1979 kündigten die südostasiatischen Nachbarstaaten einen Aufnahmestopp für Vietnamflüchtlinge an. In Malaysia wurden Menschen wieder auf das Meer hinausgeschleppt. Einer von ihnen war der Zeitzeuge Xuan Phong Vu und seine Familie.
Auf der ungefähr ein Quadratkilometer großen, malaysischen Insel Pulau Bidong befanden sich zu der Zeit ungefähr 40.000 gestrandete Vietnamesen.
Auch der Journalist Rupert Neudeck (1939-2016) setzte sich für die vietnamesischen Flüchtlinge ein.
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Cap Anamur e.V.
Zusammen mit seiner Frau Christel Neudeck, dem Politiker Norbert Blüm sowie den Schriftstellern Heinrich Böll (1917-1985) und Martin Walser gründete er den Kölner Verein Ein Schiff für Vietnam / Deutsche Notärzte e.V.. Der Verein konnte mit gesammelten Spenden das Schiff Cap Anamur von 1979 bis 1986 chartern. Sie konnten mehr als 10.000 Menschen aus dem Südchinesischen Meer retten.





So wurden auch mehrere Interviewpartner von der Cap Anamur gerettet.
Stundenlang versteckt auf der Ankerkette – von Van Huyen Tran:
„Ich bin ein Kriegsveteran der Republik Vietnam und habe den
Streitkräften Südvietnams angehört. Nach dem Machtwechsel
am 30. April 1975 wurde ich Kriegsgefangener und kam für sechs
Monate ins Arbeits- und Umerziehungslager nach Ba Long in
der Provinz Quang Tri. Als ich wieder entlassen wurde, hatte ich
keine Heimat mehr, in die ich zurückkehren konnte.“ Hier weiterlesen.
Boatpeople in Deutschland
Die Kategorisierung als Kontingentflüchtlinge hat den vietnamesischen Bootsflüchtlingen die Eingliederung in Deutschland stark erleichtert. Mit dem Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge wurden 1980 Voraussetzungen geschaffen, um Menschen, die auf Grund von Krisensituationen ihr Herkunftsland verlassen mussten, ohne große Umstände eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erteilen.[5] Die bisherige Unterscheidung zwischen politisch verfolgten Migranten, die ein Recht auf Asyl haben, und Wirtschaftsflüchtlingen, denen dieses Recht fehlt, fiel damit weg. Vietnamesische Flüchtlinge erhielten sofort einen Flüchtlingsstatus und hatten somit staatsbürgerliche Rechte. Lange Anerkennungsverfahren als Asylbewerber blieben ihnen erspart.[6]
Zeitzeuge Chi Dung Ngo über seine neue Heimat Deutschland:
Die Deutschen nahmen die Vietnamesen herzlich auf. Durch Sach- und Geldspenden wurde ihnen das Leben in der neuen Heimat erleichtert.
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Stadtarchiv Karlsruhe, A39_199_5_21
Das Land Baden-Württemberg hat Ende der 1970er Jahre knapp 5.000 Boatpeople aufgenommen.
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Stadtarchiv Karlsruhe, A36_209_3_18
Das erste Südostasien-Zentrum wurde 1980 in Stuttgart eröffnet. Das Doc-Lap-Zentrum half bis Anfang der 1990er Jahre bei Behördengängen, bei der Wohnungssuche und beim Erlernen der deutschen Sprache.
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Stadtarchiv Karlsruhe, A40_16_1_13
Vereinzelt gab es auch negative Reaktionen auf die Flüchtlinge. In Hamburg verübten im August 1980 Neonazis einen Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim, bei dem zwei junge Vietnamesen starben.
Die Cap Anamur war bis 1986 im Einsatz und rettete mehr als 11.000 Menschen das Leben.
Insgesamt sind 38.000 sogenannte Boatpeople in die Bundesrepublik Deutschland gekommen. Die Zahl der in Deutschland lebenden Vietnamesen ist allerdings wesentlich höher. Im Jahr 2015 lebten 179.000 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund in Deutschland, davon mehr als 7.000 in Baden- Württemberg. Neben Bootsflüchtlingen und deren nachgekommenen Familienangehörigen, kamen von 1979 bis 1989 80.000 Vietnamesen als sogenannte Vertragsarbeiter „aus sozialistischen Bruderländern“ in die DDR. Erst 1993 wurde der Status der Vertragsarbeiter legalisiert.[7] Die Integration der Vertragsarbeiter verlief im Gegensatz zu den Bootsflüchtlingen schleppender.[8]
INTEGRATION DER BOATPEOPLE IN DEUTSCHLAND
Die vietnamesische Mentalität und Kultur unterscheidet sich von der Deutschen wesentlich. Auch die Küche. In den 1980er Jahren war es sehr schwer, typische vietnamesische Zutaten in Deutschland zu bekommen. Heutzutage ist die asiatische Küche auch hier beliebt und fast alle vietnamesischen Gerichte können dank Internet nachgekocht werden. Eine Auswahl an Rezepten findet sich hier.
Eine andere Küche und unterschiedliche Werte sind nur wenige Beispiele, die einen Neuanfang erschweren – von der fremden Sprache mal ganz abgesehen. Dennoch wird die Integration der Boatpeople oft als Paradebeispiel für Integration genannt. Die erfolgreiche Integration lässt sich darauf zurückzuführen, dass beide Parteien davon ausgegangen waren, dass die Boatpeople in Deutschland bleiben können.[9] Die Flüchtlinge wurden schnell dezentral untergebracht, bei der Wohnungs- und Arbeitssuche unterstützt und sie bekamen Deutschunterricht. Zahlreiche Bürger, Gruppen oder Vereine engagierten sich und halfen als Paten beim Einleben. Allgemein herrschte eine große Willkommenskultur. Noch heute gibt es Vereine, die Vietnamesen in Deutschland und in Vietnam unterstützen, beispielsweise die Vietnam Community Stuttgart. Die Organisation will Einblicke in die Geschichte und Kultur Vietnams vermitteln und Vietnamesen dabei unterstützen, sich sozial erfolgreich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Ihr Ziel ist der kulturelle Austausch zwischen Vietnamesen und Nicht-Vietnamesen.[10]
[1] BpB: Die Aufnahme der ersten Boat-People in die Bundesrepublik (Aufruf 14.11.2017).
[3] Vietnam: Große Gefahr, in: Der Spiegel, 20.11.1978, S. 159-160, S. 159.
[4] WELT: Als Deutschland sein Herz für Boatpeople entdeckte. (Aufruf 14.11.2017).
[5] Bundesgesetzblatt 1057, Bundesanzeiger Verlag, ausgegeben am 29.07.1980: Gesetz über Maßnahmen für im Rahmen humanitärer Hilfsaktionen aufgenommene Flüchtlinge „Mit freundlicher Genehmigung des Bundesanzeiger Verlags“. Gesetzestext.
[6] Wie Anm. 1.
[7] FAZ: Sie kamen um zu bleiben. (Aufruf 14.11.2017).
[8] Heiko Arndt und Dang Chau Lam: Vietnamesen in Deutschland: geflohen, geworben, geeint, hrsg. vom Vietnam-Zentrum Hannover, 2012.
[9] Wie Anm. 7.
[10] Der Verein kann per E-Mail kontaktiert werden: vietnamcommunitystuttgart@gmail.com